„Ich suche nach einer Entsprechung für die Wirklichkeit.“ Zur Entstehung der Stadtlandschaften

Stadtlandschaft 2 / 2015 / Öl auf Leinwand / 90 x 190 cm
Stadtlandschaft 2 / 2015 / Öl auf Leinwand / 90 x 190 cm

R F: Im Zentrum der Ausstellung stehen Bilder aus deiner Reihe „Stadtlandschaften“. Was fasziniert dich an diesem Thema?
M K: Ich wohne seit über zwanzig Jahren in der Großstadt und schätze das urbane Leben mit seiner Dichte und Fülle an visuellen Angeboten. Diese unmittelbaren Erfahrungen in eine Bildsprache zu transformieren, finde ich eine spannende Herausforderung.

R F: Wir schauen gerade auf die „Stadtlandschaft“ Nr. 2 dieses Jahres. Ich fühle mich durch die vielen verschiedenen Perspektiven direkt in das Bild hineingezogen. Es gibt dort ein Spiel zwischen weiten Ausblicken und flächig wirkenden Partien, die durch ihre starke Farbigkeit die Atmosphäre emotional aufladen. Dabei entsteht eine spannungsvolle Korrespondenz zwischen Farbfeldern und architektonischen Elementen. Wie gehst du vor, wenn du so eine „Stadtlandschaft“ entwickelst? Hast du einen Plan oder eine innere Vorstellung von dem Bild?
M K: Meistens beginne ich sehr schnell mit einem spontanen Auftrag von Zeichen und Linien und überlasse mich dabei ganz meiner Intuition. Eigentlich gehe ich nie von einer konkreten Komposition aus. Ich möchte die Freiheit behalten, auf das zu reagieren, was im Bild entsteht. Am Anfang gebe ich der weißen Leinwand Impulse. Dann beginnt der Dialog.

R F: Wie gibst du der Leinwand Impulse?
M K: Ich würde das als freie Improvisation bezeichnen. Zunächst lege ich eine Spur. Das geschieht durch eine spontane erste Setzung. Aus dieser ergibt sich dann die nächste, die wiederum Voraussetzung für die folgende Entwicklung wird. Eine Farbe oder Bildstruktur treibt andere Farben und Formen aus sich hervor, die wiederum ein Eigenleben gewinnen, auf das ich kompositorisch reagiere.

R F: Das erklärt für mich, wieso die Binnenstrukturen in deinen Bildern einerseits für sich stehen und andererseits auf geheimnisvolle Weise miteinander verflochten sind. So entsteht diese starke Konzentrierung im Bild während du deinen Assoziationen freien Lauf lässt.
M K: Die Offenheit, Einfällen und Bewegungen spontan zu folgen, ist nur am Anfang gegeben. Jeder neue Schritt verändert das ganze Bild. Meine Arbeit ist ein Wahrnehmungsprozess mit ständig neuen Entscheidungen, welche Formen und Strukturen gerade Kraft entfalten und weiter herausgearbeitet werden wollen. Dabei muss man damit umgehen, dass kontinuierlich Bildbereiche überlagert und scheinbar zum Verschwinden gebracht werden. Insofern findet mit dem Herausschälen des Themas aus der Fülle an Entwicklungsangeboten auch eine Verdichtung statt. Wichtig ist mir, dass jederzeit viele verschiedene Blickwinkel möglich sind. Das ist in der Stadt auch so. Es gibt dort nichts Statisches. Kein konkreter Blick hat lange Bestand. Früher oder später wird er durchkreuzt durch etwas Bewegtes oder dadurch, dass man sich selber bewegt.
Natürlich gibt es auch wiederkehrende Elemente in der Stadt, Dinge, an denen man täglich vorbeigeht, die sich nicht zu verändern scheinen. Aber dann wandelt sich plötzlich die Perspektive: Bäume, die keine Blätter mehr haben, treten in eine andere Beziehung zu der dahinter liegenden Häuserfront als zuvor. Ein gestern noch frisch gestrichener Hauseingang ist über Nacht mit Graffiti überzogen. Es entstehen ständig neue Überschneidungen und Spannungsverhältnisse, die überraschen und Interesse wecken. Ich möchte in meinen Bildern einen ähnlichen Zugang ermöglichen …

R F: … wie du ihn erlebst, wenn du in der Stadt unterwegs bist?
M K: Ja, weil die Stadt für mich kein feststehendes Bild ergibt, sondern ein ständig bewegtes multiperspektivisches Geschehen hervorbringt.
Komposition heißt für mich letztlich, eine Ordnung zu schaffen.

R F: Wie meinst du das?
M K: Während der ersten Mal-Sessions lasse ich ja zunächst einmal alle nur denkbaren Assoziationssprünge zu. Das können eher linear-graphische wie auch flächig-malerische Einfälle sein. Auf der Leinwand verdichtet sich diese Vielzahl oft fragmentarischer Verknüpfungen zu einem überbordenden Geflecht. Das kann zu einem durchaus verwirrenden, chaotischen Zustand führen, den man mit dem Moment der Reizüberflutung in der Stadt vergleichen könnte. An diesem Punkt beginne ich, Ordnung zu schaffen, indem ich Oberflächen und Texturen so lange behandle, bis ich das Gefühl habe, dass sich die einzelnen Bildelemente gegenseitig befruchten und stabilisieren.

R F: Das finde ich sehr spannend. Wenn ich z. B. das linke Feld in der „Stadtlandschaft“ vor uns betrachte, erhält der Ausblick dort seine Tiefe nur durch das rote Feld auf der rechten Seite. Diese Wirkung wird durch den starken Zug von unten nach oben im Bild noch unterstützt. Es entsteht eine Bewegung, welche die verschiedenen Bildelemente in eine gemeinsame Schwingung versetzt.
M K: Für mich legt sich jede Komposition irgendwann auf ein Thema fest. Das kann in manchen Bildern ganz konkrete Formen annehmen, in anderen weniger ausgeprägt sein. Allerdings sind die „Stadtlandschaften“ keine Abbilder meiner Erlebnisse oder Wahrnehmungen. Dinge, die mich in der Stadt interessieren, sind oft sehr flüchtiger oder beiläufiger Art.

R F: Genau diese vorübergehenden Konstellationen, die man im Alltag gerne übersieht, diese scheinbaren Nebensächlichkeiten bekommen in deinen Bildern Gewicht und Bedeutung. Sie fordern dazu auf, sich mit Einzelheiten und Details zu beschäftigen, um das Ganze zu begreifen. Das macht deine Stadtlandschaften so einladend und kommunikativ. Der Betrachter bekommt Lust, sich auf die Gemälde einzulassen und mit seinen Sinnen dort spazieren zu gehen.
M K: Die Bilder als Angebot zu sehen, sich darin länger aufzuhalten und eigene Entdeckungen zu machen, gefällt mir gut …

R F: Und der Reichtum an wechselnden Szenen und unterschiedlichen Formationen macht dabei spürbar, wie komplex eine Stadt ist. Sind deine „Stadtlandschaften“ erst dann fertig, wenn sich auch dort die Fülle an verschiedenen Eindrücken und Perspektiven wiederfindet?
Darauf achte ich nicht bewusst, aber indirekt vielleicht schon. Ich suche in meinen Bildern nach einer Entsprechung für die Wirklichkeit, die ich in der Stadt erlebe. Dabei benutze ich das Thema Stadtlandschaften sehr frei und offen. Es geht mir nicht um konkrete Abbildung urbaner Situationen oder städtischer Komplexe. Mich interessieren z. B. diese „natürlichen Kompositionen“, die sich im Vorbeigehen eröffnen und wieder verschwinden.

R F: Bewegung und Wandel – sie drücken sich auch in der Oberflächenstruktur und Dynamik deiner Bilder aus und lassen mich an die Menschen denken, die in der Stadt wohnen. Welche Rolle spielen in deinen „Stadtlandschaften“ menschliche Erfahrungen und Geschichte als wesentlicher Teil der Stadt?
Für mich gibt es viele Parallelen im Prozess des Malens und im Entstehen bzw. Wahrnehmen einer Stadt. Alles setzt sich aus unzähligen kleinen Bewegungen zusammen, die aufeinander aufbauen und Voraussetzung für den nächsten Schritt sind. Dabei lasse ich in meinen Bildern nur selten Menschen auftreten oder sichtbar werden.

R F: Und doch öffnen sich für mich in den „Stadtlandschaften“ oft ganz unvermutet und überraschend Innenräume, die Persönliches andeuten. Farbfelder, die Wärme und Intimität ausstrahlen, besetzen wichtige Positionen im Bild. Deine Städte wirken auf mich nicht menschenleer oder tot, sondern scheinen von innen heraus zu pulsieren durch ihre Farben und spannungsvollen Fügungen. Was für eine Bedeutung haben für dich die Farben? Wie wählst du sie aus?
M K: Mein Umgang mit den Farben entspricht meiner Art, durch die Stadt zu gehen. Ich kann dabei nicht planen, was ich wahrnehmen will. Wenn ich etwas Interessantes entdecke, dann picke ich mir das heraus.
Auch beim Auftrag der Farben lasse ich mich gerne von dem, was auf dem Bild passiert, überraschen. Dabei verbinde ich Farben nicht mit bestimmten Emotionen.
Besonders spannend beim Malen finde ich das Unvorhersehbare. Wenn z. B. plötzlich zwei Flächen aufeinanderprallen, ohne dass ich das vorher direkt geplant habe. Dies geschieht in der Stadt auch ständig. Da fährt ein gelber Bus an einer interessanten Fassade vorbei – dies hat für einen kurzen Moment etwas Spektakuläres. Im nächsten Augenblick kann der Ort schon wieder seinen Reiz verloren haben.

R F: Dieses Momenthafte erlebe ich ganz stark in den unterschiedlichen Zuständen und Blickwinkeln in deinen Bildern. Flächiges und Körperhaftes, Außenansichten und Innenleben stoßen oft unvermittelt aufeinander und relativieren sich gegenseitig. Nahes und Fernes, Fiktives und Reales treten gleichwertig nebeneinander auf. Alles hat scheinbar selbstverständlich seinen Platz in einem architektonisch gefügten Raum, in dem alles möglich ist.
M K: Eine Stadt ist ja etwas komplett Gemachtes. Selbst die Natur, die dort vorkommt, wurde angelegt oder entworfen. Und jede Stadt hat eine Entstehungsgeschichte, die bis in den gegenwärtigen Moment hineinreicht und ständig einem Wandel unterliegt. In diesem Sinne ist Menschsein in einer Großstadt irrsinnig komplex und emotional höchst anspruchsvoll. Darauf möchte ich in meinen Bildern gar nicht direkt Bezug nehmen.

R F: Aber indirekt geben Fenster und Durchlässe, Verspieltes und Geflicktes Hinweise auf die Menschen, die in dieser Welt leben und gestalterisch auf sie einwirken. Auch in den farbigen Zusammenschlüssen und Gegenüberstellungen klingt Subjektives und Emotionales an. In einem aufregenden Wechselspiel verbinden sich Fernsicht und Nähe, Distanz und Intimität. Unvereinbares scheint zu gleicher Zeit stattzufinden. Das ist ein Teil der Spannung in deinen Bildern und auch des Lebens in der Großstadt, finde ich.
M K: Natürlich ist das Emotionale und Kontroverse, das du ansprichst, Teil der „Stadtlandschaften“, auch da wo es nicht konkret sichtbar wird.

R F: Deine Kunst hat für mich trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit etwas sehr Essentielles. Essenzen konzentrieren sich in der Regel auf wenige Grundelemente. Folgt daraus: Je essentieller eine Arbeit ist, umso weniger hat Konkretes einen Platz?
Ich habe eigentlich nicht das Bedürfnis, Konkretes zu vermeiden. Mein Vorgehen ist eher ein ständiges Filtern bis das stehen bleibt, was für mich Geltung hat. Wenn Essenz entsteht, dann geschieht dies durch Überlagerung und Konzentration.

R F: Und wann oder wie entscheidest du, dass ein Bild fertig ist?
Das ist ein ähnlicher Prozess wie zu Beginn eines Bildes. Ich folge da ganz meiner Intuition. Am Anfang gibt es viele Wege, zum Schluss bleibt nur noch einer übrig, der letztlich gilt.

R F: Ich frage mich gerade, ob nicht mit jedem Bild auch ein Prototyp für das Leben geschaffen wird.
Das kann man schon so sehen. Die Bilder der „Stadtlandschaften“ sind zwar Teil einer Reihe. Letztlich steht aber jedes auch für sich, ist in sich abgeschlossen und sucht jeweils nach einer Entsprechung für das Ganze.